Für immer jung! – Wie Sie ein Leben lang Kind bleiben.
Jugend wird ja gemeinhin als das Ideal gesehen. Viele wollen deshalb nie erwachsen werden, vergessen & löschen Fehler lieber, als aus ihnen zu lernen, und glauben ewig jung zu bleiben, wenn sie sich endlos im Kreise drehen. Manche geben auch Unsummen, von denen woanders ganze Dörfer leben könnten (und denen das Geld auch indirekt gestohlen wurde), dafür aus, die äußeren Anzeichen des Alterns verzweifelt zu kaschieren. Ich habe lieber im Laufe meines Lebens immer mehr erwachsene, reifere, weisere Persönlichkeitsanteile in mir entdeckt und weiterhin regen Kontakt zu meinen kindlichen & jugendlichen Anteilen erhalten.
Es gibt jedoch auch noch eine andere Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und vielleicht sogar zurückzudrehen, um bis ins hohe Alter ein Kind zu bleiben: Lernen Sie Gebärdensprache oder werden Sie Flüchtling!
Beim Fremdsprachenlernen wird ja gerne hochstilisiert, wie Kinder eine Sprache lernen. Viele werben damit, uns auf diese Art innerhalb kürzester Zeit eine neue Sprache beizubringen. Andere glauben, daß es an dieser speziellen Entwicklungssphase liegt, einer Zeitspanne in der unser Hirn einem Fenster gleich offen für Sprachen sei. Alle scheinen dabei eines zu vergessen: Kinder dürfen Erlerntes tausendmal wiederholen.
Nur Eltern haben die Geduld, stundenlang am Lichtschalter zu stehen, um dem Kind die überaus wichtige Erfahrung zu ermöglichen, den einfachen Zusammenhang von Ursache & Wirkung immer wieder freudig zu erleben. Nur die liebevolle Ausdauer von tausendfachem „Wo ist? – Da ist!“ und immer wieder geduldiges Verstecken & Auftauchen ermöglicht den grundlegenden Lernschritt der Objektpermanenz, die darauf aufbauende Begriffsbildung, räumliche Wahrnehmung, Beziehungsfähigkeit und natürlich auch das Erlernen der mit dieser Situation verbundenen sprachlichen Kommunikation. Mit so ausdauernden rund-um-die-Uhr-Sprachtrainern ist es leicht, innerhalb kürzester Zeit eine Sprache zu erlernen. Doch was, wenn es diese nicht gibt?
Ich interessiere mich seit frühester Jugend für Gebärdensprachen. Ich ahnte einfach immer schon, daß ich mit meinen Händen sinn-volleres tun kann, als wahllos oder unbewußt mit ihnen herumzufuchteln, oder sie schüchtern in den Hosentaschen zu verstecken. Außerdem verstand ich viel zu oft nicht, was Leute sagten. Und Zeigen hätte sehr vieles so viel deutlicher gemacht. Auch als Tänzer, Bildhauer, Photograph und Filmemacher war ich an bewußter Sprache mit dem Körper und an visueller Kommunikation interessiert. Und bald erkannte ich, daß in der Entwicklung des einzelnen Menschen ebenso wie in der Menschheitsgeschichte das Sprechen durch Gebärden unser aller Erstsprache ist. Sie ist nur vollkommen vergessen und verdrängt. Deshalb wollte ich sie für mich wiederentdecken.
Ich sah mir also alle Filme und Serien zum Thema an, aber leider fand ich damals in der Provinz keine Kursmöglichkeiten oder gebärdende Konversationspartner. So versuchte ich eben mittels CDs und DVDs aus der Bibliothek und später durch Onlinekurse ein wenig zu lernen und ganz alleine für mich zu üben. Später in der Hauptstadt fand ich Gehörlose, zog in ihre Nachbarschaft, versuchte immer wieder mit ihnen Kontakt aufzunehmen, kam aber jahrelang nicht ins Gespräch. Ich registrierte mich in Sprachlernbörsen, bot im Austausch meine Sprachfertigkeit in Deutsch & Englisch und meine vielseitigen anderen Fähigkeiten an, doch erst vor einem Jahr auf einem Gebärdensprach-Stammtisch konnte ich erste Gespräche mit den Händen führen. Durch die freundlichen Leute dort erfuhr ich schließlich auch von Förderungen, die mir meine ersten Abendkurse ermöglichten. Einmal pro Woche kann ich nun die Geheimnisse lüften, die mich mein ganzes Leben lang plagten. Endlich kann ich langsam meinen stummen Händen bewußtes Sprechen beibringen.
Doch es geht wirklich alles sehr, sehr langsam. Jedes Wort wird zwei oder dreimal gezeigt, dann später nochmal wiederholt und das war’s. Wörterbücher sind sehr rudimentär und unvollständig. Literatur in Gebärdensprache gibt es eigentlich nicht, Lieder selbstverständlich auch nicht wirklich. Alles, was für einen intensiven Spracherwerb geraten wird, ist hier kaum verfügbar. Und vor allem gibt es nur ganz wenige Gelegenheiten um zu kommunizieren und gemeinsam zu üben. Ich biete zwar ausdauernd immer wieder das Café Hoog oder meine Picknickdecke mit freeganen Schätzen im Park an, aber wenn sich spärlich jemand einfindet, dann ist das natürlich ebenso ein Gebärden-Baby wie ich. So bringen wir uns gegenseitig falsch erinnerte Gebärden bei, machen oft mehr schlecht als gut, aber wir haben ja keine andere Möglichkeit. Und wenn wir zusammenzählen, wie wenige Stunden wir nach einem Jahr in Gebärden sprechen durften, dann werden wir noch sehr lange Kleinkinder bleiben. Wir sprechen pro Semester nicht mehr als ein Baby an zwei Tagen. Und diese Zeit müssen wir noch mit vielen anderen teilen. Dann kommt vielleicht nochmal so viel an Zeit dazu, die wir untereinander ohne „Eltern“ irgendwie dahinbrabbeln, und – wenn wir sehr verzweifelt sind – noch mehr Zeit, die wir wie hospitalisierte Kinder ganz alleine Gebärden-Selbstgespräche führen.
Und hier beginnt der Teufelskreis: Für Native Speaker sind wir Gebärden-Babys klarerweise schrecklich langsam & langweilig – und sie uns viel zu schnell. Selbstverständlich hat jeder Mensch das Recht, im eigenen Rhythmus zu reden. Wir wollen uns alle so ausdrücken, wie wir eben sind, unsere Gedanken & Gefühle direkt und authentisch ausdrücken. Redegeschwindigkeit, Dialekt oder andere persönliche Sprach-Eigenheiten sind wichtige Teile unserer Identität, auch wenn uns das für andere oft schwerer verständlich macht. Und Vielfalt ist ja auch etwas Wunderschönes.
Noch mehr gilt dies für in-Gebärden-sprechende, deren Sprache von uns Hörenden lange überheblich und übergriffig verboten wurde, die nicht für Ihre Fähigkeiten geschätzt sondern meist als dumm abgestempelt oder durch mangelnde Förderung und permanente Abwertung gar dumm gemacht wurden, die deshalb einen gewissen Stolz, Deaf-Pride, und eine starke Gemeinschaft entwickelten, die für Außenstehende schwer zugänglich ist. Wenn wir als Lernende aber nur so wenig Gelegenheit zu kommunizieren, zu lernen und immer wieder zu üben haben, daß sich unsere Entwicklung im Vergleich zu Babys auf einige Tage oder vielleicht Wochen pro Jahr verzögert, erreichen wir erst nach Jahrzehnten das Schulalter und werden nur schwerlich irgendwann wirklich erwachsene und interessante Gesprächspartner. Dabei entgeht klarerweise beiden Seiten sehr viel.
Ich versuche ja, aus allem das Beste zu machen, und empfinde es als spannende Erfahrung, in diesem einem Lebensbereich in einem zusätzlichen Sinne für immer jung zu bleiben. Ich beobachte mich aber doch auch immer wieder dabei, wie ich ungeduldig durch extra Fleißaufgaben (wie selbst gelernte Vokabeln, Witze und Anekdoten) versuche, mehr Sprach-Gelegenheiten zu erhaschen. Und manchmal muß ich mich wirklich beherrschen, um nicht zu einem dieser lästigen Kinder zu mutieren, die aus Vernachlässigung nach Aufmerksamkeit suchen.
Außerdem ist es für alle Beteiligten verunsichernd und vielleicht manchmal auch verängstigend, andere nicht zu verstehen. Wie reagiere ich auf mein Gegenüber, wenn ich nicht weiß, was sie oder er will/denkt/fühlt? Vorurteile helfen da vermeintlich. Nachfragen ist besser, erfordert aber, daß die Fragen und die Antworten verstanden werden – und vor allem den Willen zur Klärung. Unter mehreren Leuten kommen auch noch Gruppendynamiken dazu. Durch Nachfragen stelle ich mich auch bloß, mache mich angreifbar. Da ist es attraktiv, lieber den anderen bloßzustellen, oder mir einfach meine eigenen Gedanken zu machen. Je weniger ich andere verstehen kann, umso mehr verliere ich mich in meinen eigenen Interpretationen, Schlußfolgerungen und Phantasien. Wichtig ist dabei, diese als solche zu erkennen.
Bei alten Leuten sehen wir ja z.B. auch oft, wie Schwerhörigkeit Wahnvorstellungen schüren kann. Auf Dauer kann es sehr zermürbend sein, immer wieder Mißverständnisse zu klären. Und manche wollen das irgendwann einfach nicht mehr und ziehen sich zurück.
So ist es auch kein Wunder, wenn viele andere Kursteilnehmenden aufgeben. Als Hörende sind wir ja nicht darauf angewiesen.
Anders ist das bei Flüchtlingen. Die müssen sich integrieren, obwohl ihnen ständig gezeigt wird, daß sie sowieso nie dazugehören werden. Oft werden sie durch andere Flüchtlinge, die ja auch nur Menschen sind, mit alten Konflikten, Feindbildern und traumatischen Erlebnissen konfrontiert, vor denen sie sich ja in Sicherheit bringen wollten. Es ist schwierig, so ein neues Leben zu beginnen. Aber Einheimische wollen oft nicht mit ihnen sprechen, fühlen sich nur belästigt oder gar bedroht, weil in den Medien ja auch nur von Übergriffen, Überfällen oder Anschlägen berichtet wird.
Wenn der Kontakt mit den einen retraumatisiert, mit den anderen frustriert, und das Überleben wieso schon lange viel zu anstrengend ist, bleibt oft nur noch Schweigen & Depression.
Ich lernte vor vielen Jahren, als der eiserne Vorhang die Welt wirklich noch spaltete, eine Frau kennen, die aus Rumänien nach Österreich geflüchtet war. Für die einen zu fortschrittlich, für die anderen nur eine vermeintliche Zigeunerin, hatte sie tatsächlich jahrelang fast niemanden zum Reden. Das Einzige zu lesen war eine Bibel, die auf der Straße verteilt worden war. Aber die Geschichte in diesem Buch begann immer wieder von vorne und war auch zu phantastisch und sehr seltsam geschrieben. Bei einem meiner (aufgrund meines Studien-Streßes leider viel zu seltenen) Besuche erzählte sie mir ganz verzweifelt, daß sie bemerken konnte, wie sie immer dümmer wurde. Sie verlernte immer mehr zu denken, weil sie mangels Kommunikationsmöglichkeit in ihrer alten Sprache immer mehr Wörter vergaß, und in der neuen zu wenig Gelegenheiten hatte, genug Begriffe zu lernen, um daraus komplexe Gedanken zu bilden. Es war wirklich schlimm mitanzusehen, wie diese gebildete und ursprünglich hochintelligente Frau ihre eigene Verdummung beobachtete. Mit ihr und den vielen anderen Menschen, die so viel Mut aufgebracht hatten, um zu uns zu kommen, nur um dann ausgegrenzt, vernachlässigt, angefeindet und abgeschoben im Mittelmeer oder in Depressionen zu ertrinken, ging und geht uns allen viel verloren. Denn erst, wenn wir lernen, mit jemandem zu kommunizieren, können wir den Reichtum der Erfahrungen dieses anderen Lebens erahnen.