Die Mutter aller Sprachen – Geheimtipp mit vielen Vorzügen
Immer wieder wurde im Laufe der Menschheitsgeschichte oft äußerst grausam und mit tödlichen Folgen versucht herauszufinden, welche Sprache die erste, die Ursprache, die Mutter aller Sprachen sei. Dabei wurde eine Sprachgruppe übersehen, die ganz logisch die erste gewesen sein muß.
Grundsätzlich muß dazu gesagt werden, daß in Bezug auf die Entwicklung des einzelnen Menschen ebenso wie bezüglich der Menschheitsentwicklung, die primäre Funktion von Sprache immer die der Bindung und erst dann die der Informationsweitergabe war und ist. Wir kennen dies alle aus dem Gebrabbel von Erwachsenen gegenüber Babys, das manchmal wundern läßt, wie kleine Kinder so irgendwann richtig sprechen lernen können. „Dulidulidu“ hat natürlich keine tiefere Bedeutung außer der lebenswichtigen Aufgabe, eine angenehme Stimm-ung herzustellen, Aufmerksamkeit zu halten und massenhafte Oxytocinausschüttung zu fördern. Ebenso war Sprache immer schon vor allem mal für den Zusammenhalt einer Gruppe wichtig. Wir können uns das etwas überzeichnet so vorstellen, als träfen sich rattenartige Wesen (also unsere frühesten Vorfahren) zum regelmäßigen Kaffeeklatsch, oder als säßen Gorillas mit Martinigläsern beim Smalltalk und fragten nichtssagend aber freundlich: „How do you do?“
Aber wie wurden dann die ersten Informationen ausgetauscht? Französisch oder Phrygisch? Mit einer von Gott geschenkten Paradiessprache oder einem von Außerirdischen heimtückisch übermittelten Proto-Sprachen-Code? Durch Nachahmung von Naturlauten, wie es viele akademische Onomatopoetiker phantasieren? Alle Philosophen und Linguisten übersehen dabei seit Jahrtausenden konsequent die Gebärdensprachen, obwohl einige unumstrittene Beweise zeigen, daß diese den Ursprung aller Sprachen bildeten. Dazu müssen wir nur ein bißchen überlegen, wie Evolution funktioniert. (Im Folgenden geht es wohlgemerkt um die Vorgängerinnen der heutigen sehr komplexen und differenzierten Gebärdensprachen, weil sich natürlich auch diese Sprachen trotz aller Unterdrückung weiterentwickelt haben.)
Zum einen verständigen sich schon Bonobos und Schimpansen mit ihrer Gebärden- und Körpersprache flexibler als mit Lauten und Mimik.
Außerdem sind die für Sprache zuständigen Broca– und Wernicke-Areale nicht nur beim Homo sapiens sondern auch schon beim Australopithecus, beim Homo erectus und sogar beim Schimpansen vergrößert (die alle noch keinen abgesenkten Kehlkopf für eine differenzierte Lautsprache hatten). Und auch wenn noch immer viele an den vollkommen unlogischen Mythos glauben wollen, wir würden nur wenige Prozent unseres Gehirns nutzen, ist ganz klar, daß ungenutztes Körpergewebe nicht wächst sondern schwindet. Evolutionäre Veränderungen setzen sich nur durch, wenn sie irgendeinen Vorteil bringen.
Auch viel später, also nicht schon vor mehreren Millionen Jahren sondern erst vor 100 000 – 300 000 Jahren hat sich unser Kehlkopf dann natürlich nicht einfach nur so zum Spaß abgesenkt, bis irgendjemand sagte: „Oh, jetzt kann ich ja plötzlich sprechen. Wie schön!“ Ohne bereits existierende Gebärdensprachen hätte die Kehlkopfabsenkung nicht den Vorteil ermöglicht, dabei z.B. die Hände frei zu haben, und wäre als unnötige Mißbildung wohl kaum zu einem die ganze Menschheit auszeichnenden Merkmal geworden.
Leider entwickelten sich die Sprachen danach wie auch viel später der Film. So wie die faszinierende Kunst, mit bewegten Bildern Geschichten zu erzählen, überraschend schnell dazu verkümmerte, einfach nur Leute beim Reden zu zeigen, ebenso verstummten unsere Hände.
Wir vergaßen unsere Ursprache und verdrängten sie so sehr, daß wir sie im Sprachdiskurs meistens vollkommen vergessen. Selbst in Wikipedia kommen Gebärdensprachen nur als Eintrag aber nicht als Sprachen vor.
Aber von denen, die weiterhin mit Gebärden sprechen können, behaupten wir, sie seien stumm.
Dabei hätte es der Filmkunst ebenso wie uns allen gut getan, uns nicht so sehr auf Lautsprache zu reduzieren. Auch wenn Gebärdensprachen weltweit unterschiedlich sind, könnten fremdsprachige Filme sicher viel besser verstanden werden, würden die Protagonisten nicht nur stocksteif dastehen und brabbeln. Vom Meister Charles Spencer Chaplin, der übrigens bei einem Gehörlosen Gebärden gelernt hatte, wissen wir alle, wie viel sich auch ohne gesprochene Worte sagen läßt.
Wir müßten beim Reden unsere Hände nicht nur sinnlos herumfuchteln oder in Hosentaschen verstecken, und wir müßten uns das oft so peinliche und vor allem schrecklich eintönige Armeschwenken von Sängern oder Politikern nicht ansehen. Wir könnten uns in lauten Diskotheken tatsächlich unterhalten oder in größere Runden auch mit Leuten am anderen Ende des Tisches und selbst im Alter ohne Hörgerät noch viel mehr verstehen.
Doch statt diesen uralten und unschätzbar wertvollen Kulturschatz zu erhalten, wurden diese Sprachen lange Zeit sogar verboten und werden auch heute sogar in vielen Schulen für Gehörlose nicht unterrichtet. Dabei wäre Gebärdensprache für alle Kinder eine spannende Bereicherung, die durch die Verbindung von Bewegung und Sprache und durch ihre räumliche Strukturierung die Lernfähigkeit auf vielfältigste Weise fördern könnte.
Die Begründung für dieses Sprachverbot beruht auf dem alten Mißverständnis von Integration, bei dem den zu Integrierenden ihre Sprache genommen wird (und damit auch ihre Ausdrucksmöglichkeit, Ihre Identität und eigentlich auch die Möglichkeit, sie wirklich zu fördern). Besser funktioniert Inklusion, wenn alle versuchen, die anderen zu verstehen, und Unterschiede als Chancen sehen.
Aber ein Schulsystem in dem alle lernen, mit ihren Händen zu sprechen, und manche darin aufgrund körperlicher Gegebenheiten Spezialisten sind, entspricht leider so gar nicht den derzeitigen Grundsätzen und Zielen.
Deshalb steckt die Erforschung der Gebärdensprachen noch in den Kinderschuhen.
Obwohl die ersten Schriftsysteme der Menschheitsgeschichte, wie z.B. die Hieroglyphen, alle noch viel mehr an Gebärden als an Lauten orientiert waren, bevor die Phönizier das erste Alphabet entwickelten, gibt es heute kaum praktikable Gebärden-Aufzeichnungen. Etymologische Quellen, Begriffsähnlichkeiten, Mehrfachbedeutungen und andere Schönheiten einer Sprache sind selten verfügbar. Gebärdenwörterbücher sind meist nur einfache Sammlungen kurzer Videoclips ohne grammatikalische Informationen oder irgendeine Suchmöglichkeit in umgekehrter Richtung. So bleiben die direktesten Nachfahren unser aller Ursprache schwer zugängliche Geheimsprachen und deren Erkundung eine große Herausforderung.
Doch gerade solche schwierigen Aufgaben haben auch immer ihren Reiz. Und wer sich die Mühe macht, wird ein hochentwickeltes Sprachsystem kennenlernen, das auf faszinierende Weise vollkommen anders ist als Lautsprachen. Während wir mit gesprochener und geschriebener Sprache jede Information langwierig nacheinander mitteilen müssen, läßt sich in einer Gebärde unglaublich vieles gleichzeitig sagen. Gebärdensprachen und deren Dialekte sind körperlicher und deshalb klarerweise viel persönlicher, vielfältiger und gleichzeitig doch in vielem auch universell. Gebärdensprachliches Denken ist räumlich und immer irgendwie auch Tun. Mir war konkretes Handeln immer schon näher als nur zu reden. Denn: „Was nützt die Liebe in Gedanken?“