lähmende Einsamkeit
Ich habe ja bereits einige Mißverständnisse zur Einsamkeit thematisiert. Ein weiters großes Vorurteil ist, daß Menschen einsam weil passiv sind. Hier wird wie so oft Ursache & Wirkung verwechselt. Tatsächlich ist es natürlich oft schwieriger, sich alleine für etwas zu motivieren. Und das betrifft nicht nur Tätigkeiten, die im Solo einfach langweilig sind. Auch still nebeneinander zu lesen vermittelt Gemeinschaft & Geborgenheit. Auch sich Zurückziehen, um mal für sich zu sein, ist eine soziale Tätigkeit. Wer immer alleine ist, hat logischerweise keinen Bedarf und irgendwann auch immer weniger Lust an diesem Ausgleich.
Anders ausgedrückt: Wenn ein sonst eigentlich recht angenehmer Zeitvertreib immer mehr mit Einsamkeit assoziiert wird – also mit dem Gedanken, daß dies eigentlich jetzt getan wird, weil keine Gesellschaft da ist, daß eigentlich lieber etwas gemeinsam getan würde, daß ich doch schon viel zu lange alleine bin und all dem Frust & Schmerz, der sich da ansammelt – dann vermiest dies klarerweise auch den größten Spaß. Und es ist wirklich schwierig, solche Gedanken jahrelang konsequent zu vertreiben. Alleine ist das fast unmöglich.
Weil Einsamkeit so wahnsinnig kräftezehrend ist, sind die vielen kleinen Alltäglichkeiten schon eine von außen weit unterschätzte Leistung. Einfach nur zu überleben ist nicht selbstverständlich, wie die vielen Selbstmorde zeigen. Doch wer würdigt das? Nein, es werden lieber wildfremde Menschen ohne jede reale Grundlage und meist auch ohne fachliche Kompetenz in die Schubladen psychiatrischer Diagnosen gesteckt, weil das einfacher und unverbindlicher ist, als Einsamkeit zu sehen und zu verändern.
Und auch wenn ich mich doch überwinde, etwas zu tun, vielleicht sogar Wunderschönes vollbringe, dann sieht das keiner. Niemand bemerkt die ungeheure Überwindung. David Mermin würde sagen, daß es gar nicht passiert ist, wenn es niemand bemerkt. Es ist also eigentlich egal, ob ich etwas machen oder nicht. Schlimmer noch: Diese große Kraftanstrengung wird mit dem Frust der Unsichtbarkeit, Gleichgültigkeit, Nichtigkeit belohnt und die demotivierenden Assoziationen schleichen sich wieder ein.
Und dann gibt es immer wieder Momente, in denen wird ein einsames Leben einfach zu leise, da wollen wir einfach irgendwelche Stimmen hören. Ein nettes Gespräch ist da am besten. Oder auch einfach nur zuhören, wie sich andere unterhalten. Wer lange alleine ist, fängt dann mit Selbstgesprächen an – oder schaltet den Fernseher ein. Ich habe sogar sonst eigentlich gut in Gemeinschaften integrierte Menschen erlebt, die beim Abendessen irgendwelchen anderen im TV bei der abendlichen Essens-Runde zusehen mußten. Doch bei allen informativen Vorzügen übertragbarer Bilder hat virtuelles Ersatz-Sozialleben einen Nachteil: Wenn reale Gesellschaft aktiveren kann, so lockt die Television in eine passive Tag-Traumwelt. Und je weniger Anreiz die Realität hat, umso schwieriger ist ein Entrinnen. Doch was sind die Alternativen?
Diesen frustrierenden Text für einige Minuten zu lesen, ähnliche Gedanken für kurze Momente zu ertragen, zu überwinden und daraus gestärkt hervorzugehen, ist eine Sache. Eine viel größere Herausforderung ist es, sehr lange Zeit des Alleineseins gut zu meistern. Und leider schnappt die Einsamkeitsfalle meist für viele Jahre zu, oft sogar gerade dann wenn noch andere Schicksalsschläge zusetzen. Solange es uns gut geht, scheint vieles einfach. Aber wir können nicht in andere Menschen hineinsehen. Wir wissen nicht, warum sie vereinsamt sind. Urteile wie: Die sind einfach zu passiv, helfen da überhaupt nicht.
Kennen wir das nicht alle, daß wir manchmal jemanden brauchen, der uns zu einer insgeheim eh gewünschten Veranstaltung überredet, vielleicht auch nur abholt und einfach mitnimmt?
Wenn nach längerer Einsamkeit Menschenmassen immer ungewohnter, manchmal irgendwie auch unbehaglicher und vielleicht auch beängstigender werden, wird es natürlich auch immer schwieriger, alleine irgendwo hinzugehen. Und je mehr dieses Alleine-sein zum einzigen gewohnten und vertrauten Zustand wird, umso schwieriger wird es, sich helfen zu lassen, selbst wenn sich dann irgendwann doch eine Begleitung findet. Diese ist logischerweise frustriert oder fühlt sich abgelehnt und die Einsamkeitsspirale geht weiter.
Doch warum ist die Begleitung eigentlich frustriert? Entspricht der Anspruch, jemanden anderen zu aktivieren, nicht eigentlich wieder dieser paternalistisch-urteilenden Überheblichkeit? Ja, das Leid eines anderen Menschen kann noch schwerer zu ertragen sein als eigenes, weil wir eigentlich machtlos sind. Sobald wir übergriffig für den anderen Entscheidungen treffen wollen, führt dies logischerweise zu Widerstand, zur Verteidigung der Autonomie. Um eine Situation für uns selber erträglicher zu machen, suchen wir Pseudo-Erklärungen, die jedoch eigentlich meist unhinterfragte Unterstellungen sind. Wie gesagt: Wir können nicht in andere Menschen hineinsehen. Fragen ist meist konstruktiver als Vermuten & Interpretieren. Und oft genügt einfach nur Dasein.
Ich biete lieber Gesellschaft, ohne etwas zu fordern. Mir selber fällt es dabei leichter, produktiv zu sein, auch wenn mein Gegenüber nur beim Werken, Gestalten, Kreieren, Experimentieren, Sortieren, Putzen usw. zusieht, mir vielleicht etwas erzählt, das Herz ausschüttet, oder sich anderweitig beschäftigt, auch einfach nur da ist, die Gemeinschaft genießt. Wenn Besuche selber aktiv werden, mitmachen, etwas ausprobieren wollen, dann helfe ich gerne, unterstütze unaufdringlich, bringe Neues bei. Und wenn jemand nur ein offenes Ohr gebraucht hat, so ist trotzdem gleichzeitig beiden geholfen.
Wenn wir also glauben, Einsamkeit ließe sich durch Aktivität überwinden, dann leisten wir lieber erstmal nicht fordernde Gesellschaft. Sich an diese zu gewöhnen, ist oft schon genug Herausforderung. Und in Gemeinschaft läßt sich’s dann irgendwann auch wieder leichter mehr tun. Spiralen laufen immer in zwei Richtungen.