„Ah, jetzt bist Du also da.“

1989

Ich eignete mir immer gerne viele sehr unterschiedliche Fähigkeiten an und versuchte aber auch, sie zu erhalten und zu pflegen. Die dafür notwendige Flexibilität und lebenslange Lernbereitschaft schien dadurch auch immer mehr zu wachsen. So entdeckte ich im Laufe meines Lebens auch immer mehr erwachsene, reifere, weisere Persönlichkeitsanteile in mir und behielt weiterhin regen Kontakt zu meinen kindlichen & jugendlichen Anteilen.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, oder ob ich einfach glückliche Gene habe, aber ich litt die meiste Zeit in meinem Leben eher darunter, daß ich viel jünger (und damit auch viel weniger erfahren & kompetent) wirkte. Jedenfalls freute ich mich über jedes weiße Haar, und begrüßte auch das erste siblerne Brust-, Scham- oder Augenbrauenhaar mit den Worten: „Ah, jetzt bist Du da. So ist das also jetzt.“

2006

Für mich ist das Altern ja etwas, das insgesamt mehr Vor- als Nachteile bringt. Nein nicht automatisch. Dazu muß ich schon etwas tun. Erfahrungen machen wir nur, wenn wir aus dem, was uns passiert, auch etwas lernen. Nur wenn wir reflektieren & uns weiterentwickeln, können wir uns Weisheit aneignen. Aber die ist so viel wertvoller als irgendein Gelenksverschleiß oder langsam schwindende Kraft. Deshalb ist Altwerden auch nichts, was ich verdrängen muß. Ich habe diese Schwamm-drüber– & Tabula-Rasa-Ausflüchte nicht notwendig, muß deshalb nicht die gleichen Fehler immer wieder machen, kann mich weiterentwickeln und deshalb – der Kreis schließt sich – die Vorzüge des Alterns genießen.
Doch auch, wenn sich der Kreis irgendwann nicht mehr schließen wird, so wird dies auch nur eine neue Erfahrung sein.

2017

Es gibt viele unvorhergesehene Dinge, die uns im Leben passieren, mit denen wir umgehen lernen müssen, die wir als Aufgabe, als Möglichkeit dazuzulernen, uns weiterzuentwickeln, zu wachsen sehen können. Und es gibt eine Herausforderung, die uns garantiert alle irgendwann erwartet, auf die vorzubereiten wir unser ganzes Leben Zeit haben.
Ich muß zugeben, daß ich es nicht schaffe, mich auf den Tod zu freuen. Dazu wird es wohl auch am Ende meines Lebens noch zu vieles geben, was ich noch machen möchte, zu viele Ideen, die ich noch nicht verwirklichen konnte. Aber ich entwickle im Laufe der Jahre eine wachsende Neugierde auf diese Etappe meines Lebens. Und ich schätze, dies ist die konstruktivste Weise, uns auf etwas Unvermeidbares vorzubereiten: Neugierig darauf werden. Und irgendwann einfach sagen zu können: „Ah, jetzt bist Du also da.“

Der weitverbreitete Glaube an Wiedergeburt beruht ja auf einem Mißverständnis. Viele Menschen aus dem Westen scheinen hier ein Gleichnis zu wörtlich zu nehmen und darüberhinaus zu vergessen, daß dieses Gleichnis ja das Nicht-Wiedergeboren-werden als Ziel beinhaltet. Aber unabhängig davon möchte ich lieber so leben, daß es keinen Unterschied macht, was danach ist. Ich möchte hier & jetzt ethisch schön leben.
Aber exotische & mystische Lehren können uns auch helfen, uns auf den Tod vorzubereiten, ihn vorwegzunehmen: Wenn alles gleichzeitig ist, dann bin ich auch jetzt schon tot, lange verwest, vergessen.
Vielleicht ist es eine der größten Herausforderungen im Leben, uns an diesen Gedanken zu gewöhnen.